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Drug-Checking -
sinnvolles Instrumentarium der Drogenhilfe?

Dipl.-Arbeit für die Prüfung zum Erwerb des Akademischen Grades Dipl.-Sozialarbeiter/- Sozialpädagoge
eingereicht von Axel Mähler


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7. 6   Sucht und Drogenabhängigkeit aus meiner persönlichen Sicht

Manch ein Leser mag an dieser Stelle nicht davon überzeugt sein, daß sich das Erklärungsprinzip »Drogenabhängigkeit« und insbesondere dessen pharmakozentrische Interpretation, so einfach durch das Erklärungsprinzip »Autonomie« ersetzen lasse. Ist es denn nicht so, mag man argumentieren, daß einige der »Drogenabhängigen« selbst von sich sagen, die Kontrolle im Umgang mit der jeweiligen Droge verloren zu haben, zum willenlosen Opfer der Droge geworden, ja von ihr »versklavt« worden zu sein? Ich hatte in der Zeit während meines Studiums als Praktikant in einer Drogenberatungsstelle, sowie auch als Betreuer einer Notschlafstelle für obdachlose (vermeintlich) Heroinabhängige, die Gelegenheit, mit vielen Heroinkonsumenten in Kontakt zu treten. Ich stellte hierbei fest, daß es den klassischen Heroinabhängigen genauso wenig gibt, wie eine eindeutig definierbare Krankheit, die da Heroin- oder Drogenabhängigkeit genannt werden könnte. So lernte ich z.B. einige vermeintlich Heroinabhängige kennen, die sich je nach finanzieller Lage fast problemlos hoch- oder runterdosierten, oder die, wenn ihnen der Streß mit den »Bullen« mal wieder zuviel wurde, kurzentschlossen eine Entgiftung antraten. Solche offensichtlich selbstbestimmten Handlungen sind wohl kaum von jemandem zu erwarten, der zum Sklaven und willenlosen Opfer einer Droge geworden ist. Andererseits habe ich jedoch auch einige (vermeintlich) Heroinabhängige kennengelernt, die sich als Opfer des Heroins sahen oder sehen wollten, die sich unwiderstehlich und - wie sie meinten - gegen ihren eigentlichen Willen von dieser Droge angezogen fühlten. Diese Heroinabhängigen versicherten mir glaubhaft, einen unwiderstehlichen Zwang zum Heroinkonsum zu verspüren. Ich halte zunächst fest: Es ist zwar ein Tabu, jedoch auch eine Tatsache, daß all die verschiedenen Konsummuster die vom Alkohol bekannt sind, angefangen vom einmaligen Probierkonsum bis hin zum zwanghaft-exzessiven Konsum, auch im Bereich der illegalisierten Drogen vorfindbar sind. Hieraus ergibt sich der Hinweis darauf, daß die sogenannte »Abhängigkeit« auch von den illegalisierten Drogen keine Zwangsläufigkeit ist, die automatisch mit Konsum dieser Substanzen einhergeht. Entsprechend erweist sich die pharmakozentrisch orientierte Interpretation von Drogenabhängigkeit als verkürzt, stattdessen scheint die individuelle Bereitschaft »sich von der Droge abhängig zu machen« entscheidend zu sein.

Bleiben wir nun jedoch bei jenen Heroinabhängigen, die sich tatsächlich in ihrem Verhalten als von der Droge fremdbestimmt erleben. Ist das denn nicht der Beweis für die Existenz der Krankheit »Drogenabhängigkeit«? Ist das denn nicht der Beweis dafür, daß die armen »Drogenabhängigen« letztlich doch dringend den Druck und den Zwang von außen brauchen und auch auf fremde »Hilfe« angewiesen sind? Und ist es schließlich nicht doch auch ein Hinweis darauf, daß die pharmakozentrische Interpretation von Drogenabhängigkeit seitens des BtMG irgendwo ihre Berechtigung hat? Ich möchte hierzu gerne anmerken, daß merkwürdigerweise die wenigsten der eben von mir erwähnten »Heroinabhängigen« ein ernsthaftes Interesse an der Teilnahme von wie auch immer gestalteten Therapien hatten, welche evtl. die Aussicht auf eine Befreiung vom »Leid der Abhängigkeit« oder auf ein verändertes Konsumverhalten eröffnen hätten können. Eben an diesem Punkt aber hat man nun allerdings wieder die Möglichkeit, beide Erklärungsmodelle (»Drogenabhängigkeit« oder »Autonomie«) anzuwenden, um sich das Desinteresse der vermeintlich Heroinabhängigen an Maßnahmen zur Veränderung verständlich zu machen: So läßt sich einerseits die Sichtweise wohl kaum widerlegen, daß gerade in der Ablehnung solcher Maßnahmen oder in der mangelhaften Begeisterungsfähigkeit hierfür, sehr wohl der »freie Wille« eines autonomen und selbstbestimmten Menschen zum Ausdruck kommt. Dieser Mensch hat sich ganz einfach mehr oder weniger bewußt für ein bestimmtes Konsumverhalten entschieden, wobei unerheblich ist, ob ihm selbst die Motive hierfür unklar bleiben bzw. er sich die magische Anziehungskraft der jeweiligen Substanz nicht erklären kann. Andererseits kann die Ablehnung einer Therapie jedoch auch gerade als Ausdruck der Krankheit »Drogenabhängigkeit« interpretiert werden. Es handelt sich jedesmal um eine theoretische Konstruktion, welche vom Anwender zwar als »in sich stimmig« erlebt wird, jedoch nicht per se falsch oder richtig ist.

Aus Sicht der Psychoanalyse könnte man es so formulieren: Wollen wir das Symptom zwanghaften Drogenkonsums als eine vom Konsumenten autonom entwickelte Kompromißlösung zwischen (unterbewußt wirkenden) entgegengesetzten Tendenzen und/oder als Ersatz für echte Abfuhr und Befriedigung ansehen, die zu respektieren ist? Handelt es sich hier also um eine anerkennenswerte, sehr konstruktive und funktionale Leistung der menschlichen Psyche? Oder wollen wir diese offensichtliche Pseudolösung eines neurotischen Konflikts als Ausdruck menschlicher Fremdbestimmtheit, Unmündigkeit, Schwäche, ja Boshaftigkeit verstehen? Ist Drogenabhängigkeit demzufolge also zu verdammen, moralisch zu verurteilen und im Rahmen von gesetzlich verordneten Zwangstherapien schleunigst zu beheben?

Einmal mehr wird hier besonders deutlich, daß sich das (pharmakozentrische) Erklärungsmodell der »Drogenabhängigkeit«, wobei allgemein an eine (zwangsweise zu behandelnde) Krankheit gedacht wird, ohne weiteres durch das Erklärungsmodell der »Autonomie« ersetzen läßt. Aufgrund des aus meiner Sicht weitaus größeren Nutzens in bezug auf die Verminderung der Drogenproblematik, halte ich die Anwendung des Erklärungsmodells »Autonomie« allerdings für dringend notwendig und angemessen. Oder - wieder aus pychoanalytischer Sicht gesprochen: Ist die Neurose also gut oder schlecht? Ich finde wir sollten die Beantwortung dieser Frage den Neurotikern überlassen. Realitätsflucht mit Hilfe von Drogen kann ein angemessenes Verhalten sein, wenn z.B. die Konfrontation mit traumatischen Erfahrungen oder Erinnerungen als zu bedrohlich und schmerzhaft erlebt wird und nicht verarbeitet werden kann. Ob dies tatsächlich so ist, muß vom vermeintlich Drogenabhängigen entschieden werden. Ihm diese Entscheidung als Außenstehender abnehmen zu wollen, ist eine gefährliche Anmaßung, die zu Erscheinungen wie sozialer Ausgrenzung, ungerechtfertigter Strafverfolgung oder auch staatlich angeordneten Zwangstherapien (inklusive der bekannten Erniedrigungszeremonien) führt.

Als ehemaliger Zwangsneurotiker habe ich selbst über viele Jahre recht gut mit einer der Drogenabhängigkeit nicht unähnlichen »Pseudolösung« gelebt. Ich konnte dies, weil ich trotz meines teils äußerst grotesken Verhaltens nicht verfolgt, bestraft, ausgegrenzt oder zwangstherapiert wurde.

 

 

7. 7   Zusammenfassung

Drug-Checking-Gegner rechtfertigen ihren Standpunkt u.a. auch damit, daß es sich hier um ein Instrumentarium handele, welches der Bevölkerung in unverantwortlicher Weise suggeriere, es bestehe ohne weiteres die Möglichkeit eines kontrollierten, eigenverantwortlichen Umgangs mit den derzeit illegalisierten Drogen. Nach Auffassung der Drug-Checking-Gegner, aber auch aus Sicht des BtMG gibt es eben Substanzen, die für den Menschen nicht kontrollierbar sind, die stärker sind als er, die ihn unterwerfen und versklaven. Das Problem der Abhängigkeit ist nach dieser Auffassung also der suchterzeugenden Potenz der jeweiligen Substanz zuzuschreiben. Diese pharmakozentrische Interpretation von Drogenabhängigkeit hat sich hier jedoch als eindeutig verkürzt, in ihrer Einseitigkeit als ungerechtfertigt und schließlich als kontraproduktiv herausgestellt. Die Vorstellung eines zwangsläufigen Zusammenhangs von Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit wurde aufgebrochen. Die Behauptung, Drug-Checking verharmlose Substanzen, die unweigerlich in die Abhängigkeit führen, erweist sich als irrational.

Innerhalb der Drogenhilfe ist so z.B. schon lange bekannt, daß selbst eine so gefürchtete Droge wie Heroin einen Menschen nicht in die Abhängigkeit hineinzwingen kann, wenn dieser »keine Lust« dazu hat. Auch wenn es ein Tabu ist: Heroinkonsum kann in kontrollierter, nicht-abhängiger Form betrieben werden.

Auch aus Sicht der Psychoanalyse sowie nach Auffassung des hier zitierten Psychologen steht fest: Man kann den Drogen nicht die Verantwortung für das Entstehen von Abhängigkeit zuschieben.

Schließlich wurde mit Johannes Herwig-Lempp deutlich, daß sich die pharmakozentrischen Interpretation von Drogenabhängigkeit als eine »soziale Konstruktion« bzw. als ein »Erklärungsprinzip« verstehen läßt, das man ebenso leicht dekonstruieren und durch ein anderes Erklärungsprinzip wie z.B. das der »Autonomie« ersetzen kann. Dem Konstruktivismus folgend, hat man also die freie Wahl, ob man einen Menschen als selbstgesteuert oder als von einer Droge fremdgesteuert erleben will. Verschiedene, sich gegenseitig widersprechende Erklärungsprinzipien des gleichen Phänomens, können sich dennoch jeweils für sich selbst betrachtet als »in sich stimmig« und »richtig« erweisen. Aus diesem Grund sollte aus Sicht des Konstruktivismus eine Theorie stets nach ihrem Nutzen bewertet werden und nicht nach der ohnehin nie ganz klärbaren Frage, ob sie »wahr« oder »falsch« ist. Aber wie groß ist der Nutzen eines Erklärungsprinzips, das eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen zu Kranken und/oder Kriminellen macht, das diese Menschen entmündigt, ihre grundgesetzlich (eigentlich) garantierte Würde verletzt, sowie sie in ihrem ebenfalls grundgesetzlich (eigentlich) geschützten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit einschränkt?

 


Fußnoten:
  1. Vgl. Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Frankfurt am Main 1984, 84 .
  2. Vgl. Lorenz Böllinger, in: akzept e.V. (Hrsg.): Leben mit Drogen, 106f .

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